Freitag, 27. Mai 2016

Das Wiener Wehrbürgertum in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts - Reloaded

So, nachdem ich bei meinem ersten Versuch gedanklich etwas von der Hirnrinde geglitten bin und in Erinnerungen schwelgte statt die ersehnten Fakten zu präsentieren geht es jetzt richtig los:

Das Wiener Wehrbürgertum in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts


Wie in praktisch allen Städten zu dieser Zeit und vor dem Aufkommen des Söldnerwesens im 15.Jhdt. war die Verteidigung einer Stadt auch in Wien eine Sache der wehrhaften und damit männlichen Bürger. Ohne auf die genaue Rechtsdefinition des Bürgers jetzt näher einzugehen (die diesen Rahmen bei weitem sprengen würde) sei kurz gesagt, dass ein "üblicher" Bürger bestimmte Rechte und Vorzüge genoss, die er jedoch durch Zahlungen des Bürgergeldes, dem Leisten des Bürgereids und zahlreicher Verpflichtungen abzugelten hatte.  Das ging den "alten" Wienern nicht anders.


Sie hatten aber, anders als die meisten Menschen im römischen Reich einen großen Vorteil wenn es um die Festlegung eines allgemeinen Gefahrenpotentials gehen soll: Wien selbst!
(Jetzt wird natürlich ein kurzer Abriss der Wiener Geschichte notwendig um diese Aussage zu untermauern. Womit wir mit "mauern" eigentlich auch schon beim Thema sind.)

Es war vier Tage vor Weihnachten, am 21.12.1193 als der englische König Richard I "Löwenherz" auf seiner turbulenten Heimreise vom dritten Kreuzzug durch Österreich kam und an der Ecke Erdbergstraße 41 und Schwalbengasse 17 in einem Gasthaus unterschlüpfte, sein Inkognitosein versaute und von den Männern des damaligen österreichischen Babenbergerherzogs Leopold des Fünften gefangengenommen wurde. Ob das ganze Festnehmen jetzt ein bauernschlauer, gefinkelter Schachzug oder einfach eine ausgewachsene Sauerei war lass ich den geneigten Leser entscheiden, Fakt ist aber das "Löwenherz" als Pilger unter dem Schutz des Papstes (mit P) stand.

Diese beiden Tatsachen vereint brachten dem lieben Poldi also nicht nur einen Kirchenbann, sondern (und da wird es für uns jetzt wichtig) einen richtig großen und fetten Batzen Geld ein.
Auf englische Könige war das Flaschenpfand im 12.Jhdt. nämlich ganz ordentlich und nachdem Leo den Richie bei Kaiser Heinrichs (dem Sechsten) Rückgabeautomaten eingelöst hatte, kam ein Gutschrift von stolzen 50.000 Mark Silber (schlappe 16.75 Tonnen nach heutigen Maß) für den Herrn Babenberger raus. (plus Wechselgeld wegen diverser Nebenklauseln).

Und weil der Poldi so ein kleiner Bob der Baumeister war, baute er um das Geld nicht nur gleich eine ganz neue Stadt (sehr kreativ Wiener Neustadt genannt) sondern befestigte noch ein paar seiner Besitzungen in Österreich. Und da kam natürlich Wien so richtig zum Zug, war es doch seit 1146 herzögliche Residenz und als östliche Grenzstadt des Reiches von enormer Bedeutung.

Also wurde eine Mauer gebaut, und zwar eine richtige. Insgesamt 4,5km Ringwall wurden angelegt, bis zu 2 Meter dick und an die 6 Meter hoch, durchbrochen von Türmen (um die 20 Stück zu "meiner" Zeit, die zum Teil auch als Tortürme fungierten) und nur unterbrochen von (im 14.Jahrhundert zwei) regelrechten Toranlagen, dem Kärntertor (12.Jh.) nach Süden und dem Rotenturmtor (1314) nach Norden und zur Donau hin.

Das Rotenturmtor und die Stadtmauerauf einer Stadtansicht von Wien um 1490

Und genau diese Mauer schütze auch im 14.Jhdt. die Stadt und sorgte für den Wohlstand Wiens im Zwischenhandel von Venedig und Ungarn hinauf in die Reichslande. Zeitgenössische Chronisten erwähnen Wien recht häufig, und nennen sie (das Wiener Herz blutet) als die (nur) zweitwichtigste Stadt des Reiches nach Köln. Und als Kenner der Wiener Mentalität kann ich sagen, dass diese Statusverleihung weniger Grund zum frenetischen Jubel für meine Vorbürger war, als vielmehr eine gute Gelegenheit bei dem einen oder anderen (bemalten, venezianischen) Glaserl selbstgehauenen Wein grantig und raunzend ein paar Tränchen in den sauren Tropfen zu vergießen.

Entwurf eines Plans der Stadt Wien um 1350 basierend auf dem schematischen Plan aus R. Pohankas, "Wien im Mittelalter"





Aber naja, das 12.Jahrhundert verging, die Mauer stand und stand und wurde auch bei den Belagerungen des 13.Jahrhunderts nicht überrannt. Sowohl 1237, als es der hauseigene Herzog (der Babenberger Friedrich II) versuchen musste, als auch 1276 wo der gerade eingewanderte neue Importherzog (Rudolf I, der Habsburger, immerhin sogar König) vor den gut versperrten Toren war, hielt Wien Stand. Militärisch. Aber nicht dem Hunger. Und so genoss das (zweit)große Wien eigentlich nur sehr wenige Jahre seiner Geschichte den Status einer freien Reichsstadt.

Wie die oben genannten Beispiele zeigen waren Wien und seine Leut' aber immer schon recht kreativ, hartnäckig und lästig und außerdem Meister im Aussperren der eigenen Landesherrn. Das war natürlich nie so richtig bös' gemeint und mehr eine kumpelhafte Neckerei im Sinne der Stadtrechtsverbesserung. Kann man ihnen nicht übel nehmen, wie ich finde. Taten die Herrn in der Regel auch nicht, abgesehen von ein paar unbedeutenden Hinrichtungen. Kein Wunder bei der Mauer war man halt lieber drinnen als draußen.

So war also "die Festung Wien" abschreckend genug um gierige Finger umliegender Landesfürsten gleich mal ganz gichtig zittern zu lassen, jedenfalls hat es im Laufe des 14.Jahrhunderts gar keiner mehr versucht. Friede, Freude, Eierspeis für die Wiener also. Doch eben nicht ganz.

Damit kommen wir nämlich auf die Wiener Stadtrechte zu sprechen, die Aufgaben und Pflichten des Wiener Bürgers detailliert (aber nicht detailliert genug für den Geschmack des Geschichtsdarstellers) festgehalten haben.

So gliedert sich die Wehrtätigkeit des Wiener Bürgers in drei wichtige Bereiche: "ze zirghen", "ze wachten" und "ze schützen". Auf jeden werde ich kurz eingehen und dann noch die  vierte Aufgabe, das "Ausfahren" angehen. 

"Ze zirgehn" - Streife gehen

Wien besaß im 14.Jahrhundert keine eigens ausgewiesene "Polizei"truppe, das Patrouillieren durch die Gassen und Straßen war somit Bürgerpflicht. Wie diese Streifen genau ausgesehen haben und wie sie (und ob sie überhaupt) bewaffnet waren ist unklar. Trotz intensiver Suche konnte ich keine Abbildung von Nachtwächtern finden, erst die frühe Neuzeit lieferte mir bisher Ergebnisse von klar zuordenbaren Bildern:

Englischer Nachtwächter um 1608, von Thomas Dekker

Frühere Bilder zeigen zwar durchaus ebenfalls "Wächter", allerdings meist im ikonographischen Zusammenhang z.B. mit der Grabwache Jesu.
Eine interessante Abbildung zu dem Thema dazu liefert ein Südtiroler Fresko um 1415 das zwei "Wächter" im städtischen Umfeld zeigt:

Wächter auf einem Fresko von 1415

Auch hier sind die Wachen mit Stangenwaffen ausgerüstet, tragen sogar Eisenhüte und Panzerhandschuhe und sind mit Schwertern als Seitenwaffe ausgerüstet. Da das Schwert wie wir später noch lesen werden zu den vorgeschriebenen Besitztümern des Wehrbürgers zählte, kann es diesem "offiziellen" Zusammenhang sehr wohl als Zweitwaffe gedient haben.

Wenn man den Chroniken und erlassenen Verboten folgt, so erkennt man aber recht schnell dass Wien wohl ein ziemlich gefährliches Pflaster war. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen für diverse Gewaltverbrechen, die häufige Erwähnung von Messerstechereien und Raufhändeln, ausufernde Feste und sogar regelrechte städtische Aufstände (wie z.B. in den achtziger Jahren des 13.Jhdt. gegen den Herzog Albrecht I) sprechen dafür, dass das "zirgehn" keine gemütliche Spazierrunde in freundlicher Nachbarschaft war.

Daher gehe ich für die Streifen von einer Bewaffnung aus, wie späte Bildquellen zeigen dürfte diese aus einer Stangenwaffe (Halmbarte oder Spieß werden oft gezeigt) sowie einer Seitenwaffe (Dolche und Dolchmesser werden gerade in Zusammenhang mit Wien sehr oft genannt. So spricht schon das Stadtrecht von 1221 von den "langen Messer" oder "Stechmessern" gesprochen die scheinbar sehr viele Wiener trugen. Es ist bemerkenswert, eine so frühe Quelle für zivile Messer als Trachtbestandteil zu haben, tauchen die Dolche und Dolchmesser erst gegen ende des 13.Jhdt. regelmäßig in Bildquellen und archäologischen Belegen auf).
Trotz des strikten, mit Handverlust bestraften, "verborgenen" Tragens, sowie dem teilweise existierenden Verbot des allgemeinen Besitzes dieser Messer dürfte den Chronisten zu Folge das "Messer" und seine für Leib und Leben gravierende Folgen in Wien ein großes Problem gewesen sein.

Ein weiteres Attribut dass dem Nachtwächter gerne zur Seite gestellt wird ist die Laterne. Gerade die städtischen Nächte entsprachen auf Grund der fehlenden Straßenbeleuchtung sowie der erloschenen Herdstellen wohl dem oft zitierten "finsteren Mittelalter". Na wenigstens etwas wo die klassischen Geschichtsverallgemeinerer recht haben.
Trotzdem liegt uns gerade für Wien in Gestalt der Tagebücher der Agnes Blannbekin (1250-1315) ein bemerkenswerter Beleg für die Nachtwächter vor, der auf das Fehlen von Laternen in der Ausrüstung hinweist.

Die liebe Agnes, getrieben von religiösem Eifer mochte nämlich zur Mitternacht beten, nur um festzustellen das ihr Herdfeuer erloschen ist. Ein Herbeirufen des Nachtwächters gelingt und der furchtlose Mann stürzt sich .. in ein (für heute undenkbar) unverschlossenes Nachbarhaus um dort Feuer zu holen. Tja, hätt er nur eine Laterne gehabt!

"Ze wachten" - Wache stehen

Was jetzt in Wien zu jener Zeit so wichtig war um bewacht zu werden ist aus den Quellen nicht ganz klar, ich kann mir aber vorstellen dass städtische Gefängisse oder Gerichtsgebäude sehr wohl eines Wachschutzes bedurft haben. In der Literatur erwähnt werden natürlich die Stadttore für deren Bewachung ebenfalls die Wehrbürger Wiens zu sorgen hatten.

Gesichert hingegen ist die Existenz von Wächtern in Gestalt von Türmern zu St. Stephan, deren Sold wird bereits im 14.Jahrhundert in den Rechnungen der Stadt aufgeführt. Eben diese Erwähnung macht es aber dann auch sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um Professionisten und keine Wehrbürger gehandelt haben dürfte. Sowohl der Brandschutz als auch die Beobachtung des Umlandes waren ihre Aufgabe, und so waren sie auch mit Signalgebern ausgestattet um den entsprechenden Alarm effektiv ausrufen zu können. Der Trompeter oder Posaunenspieler wird extra in den Rechnungsbüchern gelistet und diente im Kriegsfall auch dem städtischen Aufgebot als Signalgeber im Felde.

"Ze schützen" - Zu verteidigen

Einer der extremsten Fälle des Einsatzes bürgerlicher Wehrhaftigkeit stellte schließlich der Einsatz in der Verteidigung der Mauern und Türme im Belagerungsfall dar.
Wie schon erwähnt verlangte das 13.Jhdt. ein paar mal eine derartige Opferbereitschaft, während das 14.Jahrhundert sicher ganz zum Wohlgefallen der Wiener keine Gelegenheit bot auf den Mauern seine Tapferkeit zu beweisen.

Im Verteidigungsfall ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass die gesamte Bewaffnung und Schutzausrüstung des Wiener Bürgers zum Einsatz kam. Wie diese ausgesehen hat wissen wir recht zuverlässig aus zwei unterschiedlichen Quellen:

Einmal aus dem Stadtrecht von 1442 dass den Besitz von "tartschen (große Setzschilde), spiess (Stangenwaffe) sowie "schallern oder eyn eysenhut (einfache Infanteriehelmtypen)" vorschreibt.
[Ein Y .. ich hab ein Y gefunden .. nein, sogar zwei .. klappert eifrig mit den Afterballen!]

Umgelegt auf hundert Jahre früher und somit in unserem Betrachtungszeitraum kann aus dieser Vorschrift von dem Besitz einer Stangenwaffe, eines Kopfschutzes in Form von Beckenhaube oder Eisenhut sowie eventuell einem Setzschildes ausgegangen werden.

Ergänzend dazu, und deutlich umfangreicher sind die Quellen in Form der Bürgertestamente des 14. und 15. Jahrhunderts die bereits ein umfangreiches Arsenal in Bürgerbesitz ausweisen. So werden dort Schwerter, Panzerhandschuhe, Ringpanzer und Harnische, Eisenhüte, Beckenhauben und andere Helme verschiedenen Typs und natürlich Armbrüste erwähnt.

Gerade vor der Gründung des Wiener Zeughauses im 15.Jahrhundert war der persönliche Waffenbesitz, und zwar nicht nur für die Bürger selbst sondern auch den wehrhaften Bestandteil ihres Haushalts wie Gesellen und Knechte, enorm wichtig und dementsprechend auch Bestandteil der Bürgerpflicht.

Wie solche Wehrbürger in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts eventuell ausgesehen haben zeigt anschaulich die um 1340 in Klosterneuburg gemalte Rückseite des eigentlich um 1181 entstandenen "Verduner Altars".
 
Diverse Gerüstete um 1340, Verduner Altar, Rückseite
 
Natürlich musste so ein Ernstfall auch irgendwie organisiert werden um ein Herumirren von Bewaffneten "wie die aufg'schreckten Hend'ln" (modernes Wienerisch, aber durchaus auch für das 14. zu vermuten) zu vermeiden. Dazu hatten sich die Stadtherren ein einfaches, nach Vierteln organisiertes System ausgedacht um die Mauern und Türme schnell und effektiv zu bemannen.

Wien wurde als in vier Viertel (war ja irgendwie klar oder? Etwas zu vierteln ergibt halt vier) unterteilt: das Kärnter Viertel (rund um Kärntnertor und die von Tor zu Tor führenden Kärntnerstraße), das Widmerviertel (beim Widmertor), das Schottenviertel (um das eigentlich von 1155 von irisch-schottischen Mönchen gegründete Benediktinerkloster) und das Stubenviertel (benannt nach den zahlreichen dort liegenden Weinstuben und von allen Vieren, nix gegen Kärntner und Iren natürlich, sicher das Beliebteste).
Für jedes Viertel wurden feste Sammelplätze definiert: Die Bürger des Kärntner Viertels trafen sich am Neuen Markt, die des Widmerviertels "am Graben" (hier lag der im 12.Jahrhundert durch zugeschüttete, alte Graben der römischen Befestigung), die Bürger des Schottenviertels eilten im Notfall zu "Am Hof" (Platz mit Szandort der alten Babenbergerresidenz) und die Stubenviertler schließlich zum "Lugeck".
 
Die 4 Stadtviertel (Kärntner Viertel = blau, Stubenviertel = rot, Widmerviertel = grün, Schottenviertel = gelb)
Die Sammelplätze der Bürger sind farbig hervorgehoben

Zusätzlich wurde die Verteidigung noch nach den in Gassen, Straßen oder an Plätzen beieinanderwohnenden Zechenmitgliedern gegliedert und jeder Zeche somit ein Turm oder Mauerabschnitt des jeweiligen Viertels zugewiesen. Einen Häuptling braucht's bei so vielen Indianern natürlich auch, nominell war das dann der gewählte Bürgermeister, 1340 also der Kürschner Konrad Wiltwerker.
Neben der Stadtverteidigung folgte auch die Brandversorgung dem gleichen Schema, man setzte sogar Preise für denjenigen aus der am schnellsten mit einem Wagen voller Wasser am vereinbarten Sammelplatz des Viertels eintraf.

Die letzte, und wie ich finde amüsanteste Verpflichtung der Wiener Bürger, das "Ausfahren" werde ich, da der Artikel hier jetzt schon arg lang ist in der Fortsetzung dieses Beitrages besprechen. Dazu geht es hier lang ->

Quellen:
-Ferdinand Opll, 1998, "Leben im mittelalterlichen Wien"
-Walter Hummelberger, 1972, "Die Bewaffnung der Bürgerschaft im Spätmittelalter am Beispiels Wiens"
-Peter Csendes/Ferdinand Oppl, 2001, "Wien - Geschichte einer Stadt", Band 1

PS: An dieser Stelle großen Dank an meine Familie, die die Kinderhände zum Kolorieren der Karte, die Hilfe bei der Recherche und vor allem die Geduld aufgebracht hat Papa einen Tag lang in Büchern versinken zu lassen

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